try high
Mutmaszungen über Dee
die vielen Bilder deiner Heimat
Repräsentant*innen für anderswo
war dir die Heimat nie vertraut
sie stümmte nie
war Plisch auf halber Treppe
und Joseph Schmidt
den du noch
für nen Menschen hältst
ist Rabe plus
kann fliehen
Dee ging flussaufwärts sich entfernend von jenen Geräuschen, die sie fortgetrieben hatten. Eine Fotografie in der Hand, ein Bild von Euphorie und Freiheit, an das sie sich halten wollte. Jetzt steckte sie es ganz hinten in ihr Portemonnaie und überschlug dabei noch die Summe, zu der sich die dort eingesteckten Scheine addieren liessen. Langes, dunkles Haar seitlich zu zwei Zöpfe geflochten, die ihr bis zum Hintern reichten, auf dem eine zierliche Hüfte thronte, die aus Marzipan erschaffen und in einen jugendlichen Oberkörper überging, das war ein weiteres Bild, welches Dee von sich selbst hatte. Sie trug es als fixe Idee im Muster eines washi tapes quer über dem dritten Auge und zog es nur selten ab, wenn ihr selbst einmal die Anspannung, die die Unterlassung von Entspannung bewirkte, zu viel wurde und sie traditionell und orthopädisch verordnet in die Hocke ging und mit ihren Blicken der Strömung des Flusses folgte und sich wiegte, hin und her, ähnlich einer Umarmung, die Geborgenheit auslöst.
Später stand sie auf, sah sich um und überlegte, wie weit sie sich bereits von ihrem Haus entfernt hatte. Sie konnte schlecht schätzen, das wusste sie, ihr Vater hatte es ihr gesagt und sie hatte es sich gemerkt. «Sie vergisst nichts, sie kann sich alles merken», hatte ihr Vater auch gesagt und sie angeboten bei einem Gewerbetreibenden, der eine Assistentin gesucht hatte und der es sich überlegen wollte.
In der Nacht bevor sie verraten wurde, war sie durchs Haus geirrt und hatte im Geschirr, in den kleinen Klappen unter der Treppe und den Fensterbrettern, hinter den Büchern in den endlosen Regalen in den Fluren zur Küche nach Geld gesucht und auch ein kleines Bündel gefunden. Die Scheine waren von hohem Wert und so machte es nichts, dass es nicht so viele waren.
Die Frau, die vor Dee gegangen war, die andere, die sie nur aus dieser einzigen Geschichte kannte, hatte die Haare lang getragen, die üppige Pracht aufgetürmt und sich für gewieft gehalten, als sie einige Goldmünzen in ihr Haarnest gesteckt hatte. Dann aber in der Nacht als die verraten ward, hatten die Schänder*innen sämtliche Münzen aus ihrer Frisur gezogen und ihr die Haare gelöst und sie daran durch den alten Ort geschliffen, weit, weit fort vom Haus. Das war eine Geschichte, die man seitdem hören konnte. Dee kannte sie auch und hatte deshalb das Bündel Scheine bereits am späten Abend unter einem gestürzten Blumentopf neben das Hoftor versteckt, durch das sie wenig später robben würde mit letzter Kraft, aber dann würde sie an das Bild von Euphorie und Freiheit denken und ihre Stärke zurückgewinnen und so war es auch gekommen.
Jakob jedoch, der immer quer über die Gleise gegangen ist, hatte gewusst, dass die Wiederholung nichts wiederholte, sie nur gelegentlich zitierte und dass die Wahrnehmung dieser seltenen Wiederholung, die eigentliche Angst vor der Zukunft evozierte und die Leute zu Verallgemeinerungen verleitete. Diesen Gedanken hatte er Dee in den Wochen vor dieser Nacht häufig geschickt.
Dee war in die Dunkelheit gelaufen, in die Richtung die Jakob ihr gezeigt hatte, nach einer gewissen Zeit hatte sie den Fluss riechen können und schliesslich reflektierte eine Strassenlaterne in einiger Entfernung Licht auf die Oberfläche und Dee erkannte den Fluss, dessen weiteren Verlauf sie sich nun denken konnte.
Als sie erwachte, standen die Sonne hoch am Himmel und einige Wesen nicht weit von ihr entfernt. Sie konnte sie nicht gut erkennen. Diese Scheusale bewegten sich auf sie zu. Waren es jene Zombies, in die Erinnerung hineingehustet worden war? Von denen sie gehört hatte? So recht zu leben schienen sie nicht, dennoch bewegten sie sich auf sie zu, gaben Töne von sich, dumpfe, fordernde Laute. Sie zappelten ihr entgegen in langen Körpern, die sich untereinander kaum ähnelten. Dee entwarf nacheinander Gesten deren Ausdruck der Empörung sie steigerte, ballte die Faust und streckte sie am Arm in den Himmel. Sie drohte den Entgegenkommenden, aber die setzten ihre Choreografie fort. Ihr Schweigen, das kam ihr bekannt vor. Das beunruhigte sie am meisten, dass sie etwas wiedererkannte, aber sie nicht wusste woher und Dee empfand ihre Nähe als bedrohlich.
Die Nacht im Haus war stets still gewesen. Kaum Laute in der Nähe, meist nur von irgendwoher etwas, aber selten. Eher war der unbelebte Raum spürbar, denn die Ahnung eines Geräuschs in der unmittelbaren Umgebung. Eher spürte sie die Wärme, die in der Mauer tagsüber gespeichert worden war und sich in der Nacht im Hof verteilte bis sie sich am Morgen für wenige Stunden ganz auflöste. Auch, wenn es gelegentlich laut knallte, weit weg blieb es und ungeklärt, was es war. Dazu hätte Dee ja fragen müssen, das machte sie nicht. Niemand fragte. Man verbarg sich.
Dee entschied sich ein Stück weiter hinein ins Land zu laufen, weg vom Fluss, solange bis sie die Scheusale aus den Augen verlieren würde, später könnte sie an anderer Stelle zum Flusslauf zurückkehren, um nicht die Orientierung zu verlieren, schliesslich sah sie den Fluss an, wie eine von Jakob gespannte Schnur, die sie von einem Ort weg direkt an einen anderen Ort führen würde. Dass Dee dabei in den Prozess einer Veränderung geriet und ungeachtet dessen, ob die Welt sie sah, sich in ihrer Umgebung dennoch spiegeln würde, das konnte sie ja nicht wissen. Wer weiss, ob sie unter dieser Bedingung ihr altes Haus verlassen hätte. Sie spürte, wie gut es ihr tat, dass die Scheusale ihr nachweinten. Sie heulten laut und markerschütternd, darüber, dass Dee ihrem Wirkungskreis entschwand und Dee wunderte sich über deren Hilflosigkeit, waren sie doch so bedrohlich, so voll von Stärke und Kraft, die sie über Dee hätten ausleeren und Dee mit einem beherzten Griff in deren makellose Eierstöcke leicht in die Bewusstlosigkeit schleudern können.
Dee fühlte sich als Heldin, Tochter Phoolan Devis. Die Scheusale, die sie gesehen hatten und nun betrauerten sie ihren Abschied mit den tosenden Wellen der Klage. Dee drehte sich um, konnte aber keine der Gestalten mehr sehen. Sie war gerührt von der Zuneigung ihrer Peiniger und fühlte sich seltsam schockiert in der Auseinandersetzung grosser Widersprüche, die sich zwischen ihrem Körper und ihrem Geist breit machten. Sie wischte sich Tränen aus dem Gesicht und als sie welche auf ihren Brüsten spürte, begann sie ihre Bluse zuzuknöpfen. Und sich gegenseitig ausschliessende Erinnerungsfetzen liefen in 16:9 durch ihren Geist, die ihre dissoziative Störung vervollkommneten.
Aus dem Haus ihrer Familie war kein Laut erklungen als Dee in der Nacht fort gegangen war, kein Laut des Schmerzes, keiner des Verlustes, einer Zäsur messerscharf in Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt. Nur die Schänder*innen hatten ihr mühevolles Johlen angestimmt, dass aber nur in den Minuten des Verrats zu hören gewesen war und verstummte, als Dee mit dem Bündel Scheine in der einen, der Fotografie in der anderen eine Hand nach der anderen, ein Knie nach dem anderen durch das Tor setzte und somit ihren Platz verliess und den Schoss der Familie.
Die Exklusivität von Dees Erinnerung schwang sich auf einen stark behaarten Drachen, dem sein Name nicht gefiel und erhob sich schnell in die Lüfte, Dee sah ihm nicht nach, zu erschrocken war sie über seine Erscheinung. In der Gleichförmigkeit der Schänder*innen, in der sie in der Nacht als sie verraten ward, hätte untergehen können, sah sie sich noch in ihrem geglückten Weggehen als einzigartig an. Doch nun schwand das Gefühl und Dee kauerte sich mit dem Rücken an einem von der Sonne erwärmten Mauerstück und ruhte sich aus, bevor sie den Weg zum Fluss wiederfand, der später ins Meer mündete.
Am frühen Morgen tauchte Dee vom Brandungsrückstrom hinaus getragen in einen Schwarm fetter Makrelen ein und wand sich geschickt in deren Gleiten und sorgte mit diesen Bewegungen dafür, nicht zu sinken. Ihre Aufmerksamkeit schenkte sie dem Licht, das sich in den Schuppen der Fische spiegelte, um ein Vielfaches multipliziert durch die Gestalten, die der Schwarm immer wieder neu annahm und die unterschiedliche Nähe zur Wasseroberfläche. In dieser Faszination ging die Zeit schnell vorüber und Dees Hingabe in die Bewegung wurde immer stärker, die Abläufe schienen ganz in ihre Natur übergegangen zu sein und an ein Auftauchen wollte sie lange nicht denken.
Schliesslich jedoch stieg sie an einem Ufer aus und mischte sich gleich zwischen die Leute auf einem Markt mit hellem, festem Sandboden. Sie kaufte sich eine Tüte frittierter Sardellen, Brot, Wein und Wasser und setzte sich an den Rand des Platzes, um die Leute zu beobachten. Sie erinnerte sich an Jakob und fragte sich, wie sie sich nun in den Fortgang ihres Lebens einmischen wollte. Das Fett der Fische an ihren Händen verteilte sie auf ihren Oberschenkeln, der dünne Film, der dabei punktuell auf die Fotografie spritzte, löste die chemische Verbindung auf und das Bild wurde an einigen Stellen unkenntlich. Dee warf es zusammen mit den Fischschwänzen und dem restlichen Abfall in den Mülleimer und ging zu einem Paar an einem Gemüsestand, um nach Arbeit zu fragen.
Arbeit zu finden war leicht, auch eine Unterkunft fand sie in der Nähe des Marktes. Sie teilte sich eine Wohnung mit fünf anderen Erwachsenen, von denen zwei ihre Sprache sprachen. Das Wasser holten sie aus einem Waschraum nicht weit vom Haus und abends kochten sie nacheinander auf dem Herd in der Küche, der mit Strom betrieben wurde. Nachts wenn sie schlafen konnte, wenn die Geräusche der vielen anderen denn einmal abnahmen, träumte sie von ihnen. Tausend federähnliche Arme, die sie mit ihrer Aufmerksamkeit umspielten oder nicht? Oder war ihre Hinwendung nur eine Handlung, die einem Geräusch der Geräuschkulisse folgte?
Dann wechselte die Szenerie und Jakob sprach zu ihr: In grosser vorhersagbarer bürokratischer Geste hast du deine Heimstatt verlassen, drohte seine Stimme in ihr und lachte. Und nun bügelst du mit Vernunft jedes Gefühl platt, aber darüber ein Wort verlieren, ohne in Zynismus gekleidete Kalauer, nie. High, sagte er weiter, high steckt darin, wenn wir ganz oben sind.
Dee erläuterte sich diese Worte in der Bedeutung ihres Elternhauses und konnte so natürlich nicht alle mitschwingenden Kosmen hören, die angeklungen waren und sie dachte plötzlich, dass es richtig war Jakob, der immer über die Gleise gegangen ist, zu folgen. Dennoch misstraute sie seinen ihr vermittelten Gewohnheiten und glaubte plötzlich, dass Ankommen nach einem Aufbruch nur eine Möglichkeit von vielen sei, aber das waren Gedanken, die ihre Gefühle nicht verstanden. Und umso mehr sie Jakob vermisste und der Verlust ihrer Familie sie schmerzte, umso tiefer flog der Drache, der seinen Namen nicht mochte über ihr und sein Schatten wirkte bedrohlich auf sie, seit sie seine Rückkehr bemerkt hatte.
In der Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat, begab sich Dee weg aus dem Ort, an dem sie einige lieb gewonnen hatte.
bäumt sich die Heimat nochmals auf
als aufgetürmte Weite
glasklar unter Wellenschaum
durchdringt darunter alles nichts
Sie fand zurück zu einem Fluss, der sie diesmal flussabwärts zu Jakob führen würde. Sie trug eine Maske über Nase, Mund und Kinn zum Schutz vor Entgegenkommenden, aber es kam ihr niemand entgegen. Abseitig in den Orten sah sie an den Abenden über die Mauern hinweg hinter den Fenstern Menschen in den Häusern, aber worüber sie sprachen, konnte sie nicht verstehen. Sie sah allein ihr Hinwenden zueinander und ihr abwenden, das sich aber wohl nicht immer auf Aktionen und somit aufeinander bezog. Beiläufig nur fütterte sie die wachenden Hunde und schickte erstmals auch Jakob eigene Gedanken. Sie fädelte dafür einige auf eine dünne Schnur, damit sie auf ihrem Weg besser zusammenhielten, dass sie sich im Wind ebenso, wenn nicht so komplizierter verwirbeln konnten, das hatte sie längst mitgedacht und sie wünschte sich, dass Jakob diese Bewegungen mitbeobachten würde.
Ich spüle die Haare des Drachen doch einmal jetzt hinunter
solang sein Schatten im Himmel über mir schwebt
ins Gläschen Klaren sinken sie sacht
ein kalter Schauer nur
Lakritz im Abgang
recht scharf als ordinäre Kloake
zieh mich hinweg, zieh mich hinweg
sogleich verbrenne ich
(2020)
erschienen in: Salz, Zeitschrift für Literatur, Salzburg