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Seit ich fort bin
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Orte der Herkunft
räumliche Entfernung
zeitliche Entfernung
innere Entfernung zur Gesellschaft an den Orten von Heimat
verdichtete Erinnerungen als Orte der Heimat

Seit Ich fort ist, die bündelnde Einheit, seitdem die Welt zu denken. Identität als Ich-Selbstverständnis, zusammengesetzt aus dem Vertrauten und den Vertrauten, innig und gegenwärtig und dann ohne sie: unvollständig. Ich unvollständig, ungebündelt hinter dieser Folie bewegten sich meine Überlegungen zu Seit ich fort bin.
Fragen nach Zugehörigkeit stelle ich mir jeden Tag. Ich beschreibe mein Erinnerungsphänomen, mein Haus und Himmelszelt, mein Koordinatensystem mal als Mecklenburg, mal als Berlin, als einen Garten hinterm Haus ortlos, einen kleinen Hof zwischen zwei Häusern, einen Acker mit tiefen Furchen, einen Waldrand mit hohen Eichen und jenem Rauschen, das mit mir verbunden bleibt wie das Heidi mit ihren Tannen.
Ich beschreibe den Strand in der Nähe von Barlachs Atelierhaus, schon aus der Autotür auf dem nahen Parkplatz, kann man in hellen, feinen Sand fallen oder den Badeplatz mit dem Standkorb, in dem nur die Großmutter oder die Eltern sitzen. Ich trage noch den alten Spielplatz und den Park, die es nicht mehr gibt mit mir herum. Ich denke manchmal an die Büsche, unter denen man keine leeren Schnapsflaschen findet oder wir uns nicht mehr finden. Ich bin aber auch nicht sicher, ob wir uns je fanden.
Ich ordne Strassenverläufe, die verändert sind, ich versuche sie zu beschreiben, wenn ich mich mal an sie erinnere, das ist selten. Alles neu, das alte ist verschwunden.
Mancher Ort ist in der Erinnerung zwischen den Menschen, soziales Gefüge, keine Landschaft vor mir, nichts ist mir im Blick. Inselsee, Knüppeldamm, Schanze, Weißensee, Sophienstraße, Schliemannstraße, Weberwiese, aber was ist das jetzt im Klang der Ohren anderer? Das ist viel Lärm darüber, den kann ich nicht wegwischen. Den hör ich auch. Manches Mal der Alexanderplatz, das Zentrum der DDR, keine Ahnung, ich weiss nicht mal warum. Mal Parum, mal der Breitling. Von wegen greifbar, etwas wäre greifbar. Nahe ist es. Sehr nah.
Seit ich fort bin erzählt aus dem Leben von Mirjam Bonin. Aus ihrer Kindheit in der DDR, der Jugend im Deutschland der Neunziger und lässt ihr gegenwärtiges Leben in Prag anklingen.
Seit ich fort bin zählt ihre Verbindungen auf, erzählt vom kleinen Bruder Karl, von der Freundin Anis und von der Jugendliebe und Sehnsuchtsperson Driew, stellt Fragen zur Verbindlichkeit von Beziehungen und offenbart einen großen Verlust, den Verlust der Freundin Anis, die sich selbst tötete, zu einem Zeitpunkt, da Mirjam gerade aufgebrochen war, ihre Zukunft voranzutreiben.
Leise und ohne großes Aufsehen haben ungewollte Schwangerschaft und ein Einbruch in ihre Wohnung in Prag, ihr Verhältnis zum stetigen und perzeptivem Voranschreiten der Zeit verändert. Obwohl sie sich gleich zu Beginn des Textes in den Zug setzt und zur Hochzeit ihres Bruders in den Ort der Kindheit begibt, alle Erinnerungen mit sich schleppend, sich nun also fortwährend in die Vergangenheit zurückversetzt und gelegentlich die Lieben flüsternd befragt, ob sie sich noch erinnern. Heimat ist nicht länger das Himmelszelt ihrer Kindheit, es ist das erinnerte Himmelszelt und die Menschen, die sie sich darunter versammeln lässt.